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Testbericht

Stefan Grundhoff, 27. April 2011
Audi entwickelt zusammen mit Doktorand Michael Bär von der Universität Aachen derzeit ein Auto, das sich wie ein Motorrad oder ein Skifahrer in die Kurve legen kann. Die visionäre Neigetechnik verhindert die Übelkeit der Insassen.

Das Problem, dass Autoinsassen auf längeren Strecken regelmäßig übel wird, kennen viele seit Kindertagen. Während der Fahrer auf kurvenreichen Autobahnen wie den Kasseler Bergen der A7 oder der A3 zwischen Köln und Frankfurt seine helle Freude an den Wechselkurven der Autobahnen empfindet, sehen das die Passagiere auf dem Beifahrersitz oder im Fond ganz anders. Keine Seltenheit, dass den Kindern auf der Rückbank speiübel wird und die Ehefrau die Lieblingszeitschrift längst aus der Hand gelegt hat. Sie stiert nur noch starr auf den Horizont. Diese automobile Reisekrankheit könnte mittelfristig der Vergangenheit angehören. Audi arbeitet zusammen mit Doktorrand Michael Bär von der Universität Aachen an einer Lösung, die alle Insassen zum Strahlen bringt und längeren Strecken den Schrecken nimmt.

Der Selbstversuch mit verbundenen Augen auf dem Beifahrersitz ist eindrucksvoll. Auf dem kurvenreichen Autobahn-A9-Teilstück südlich der Anschlussstelle Greding in Fahrtrichtung München scheint es so, als seien die Kurven über Nacht aus der Landschaft herausgebügelt worden. Der große Aufkleber „Achtung Messfahrt!“ auf dem dunkelroten Audi soll dem umliegenden Verkehr zeigen, dass dieser A5 mehr auf dem Kasten hat, als seine Serienbrüder. Der A5-Prototyp, den Michael Bär mit Tempo 120 steuert, kann sich in die Kurve legen wie ein Motorradfahrer oder ein Wasserskifahrer. Der Beifahrer mit verbundenen Augen hat in jeder Hand einen Druckknopf. Wenn er meint, dass eine Kurve beginnt, soll dieser den Knopf so lange drücken, bis es wieder geradeaus geht. Nach ein paar Kilometern gibt die Bordelektronik im Kofferraum ein ernüchterndes Bild. Der Copilot hat kaum die Taster betätigt, weil er kaum Kurven gespürt hat. Michael Bär ist sichtlich zufrieden. Er hat innerhalb des letzten Jahres mehr als 20.000 Kilometer in dem Prototypen zurückgelegt. Die Ergebnisse ähneln sich. Kurven bis 130 km/h kann der Audi A5 komplett wegbügeln.

Rund 20 Prozent aller Autoinsassen wird auf längeren Autobahnfahrten übel. Doktorand Michael Bär erinnert sich noch gut daran erinnern, wie es beim ihm zu Kindertagen auf der Rückbank des väterlichen Autos war. „Besonders Personen unter 25 Jahren wird im Auto regelmäßig schlecht“, erklärt Michael Bär, „bei Frauen geschieht das besonders leicht.“ Zusammen mit Audi hat der Mann von der technischen Hochschule in Aachen ein Fahrwerkskonzept entwickelt, das der Fliehkraft per Neigetechnik seinen Schrecken nimmt. Nach dem ersten Probelauf auf der A9 gibt es zweite und dritte Schleife. Mal mit Augenbinde, mal ohne. Der rote Audi A5 fährt sanft in die Rechtskurve auf der Autobahn ein, Passagiere in einem daneben fahrenden Toyota Corolla glotzen sich die Augen aus und zeigen irritiert auf den Prototypen. Zwei Kurven weiter geht es links herum. Die Familie in einem vorbeifahrenden VW Golf kann ihren Augen nicht glauben. Denn eben wie ein Motorrad legt sich der mit Neigetechnik ausgestattete A5 in die Rechtskurve. Optisch erinnert die Fahrt an einen Skifahrer, der mit stark taillierten Carvingski die Piste herunterfährt indem er sich gekonnt in die Kurve legt und sein Körpergewicht die ganze Arbeit machen lässt.

Möglich macht die ungewöhnliche Neigetechnik ein elektronisches Fahrwerk mit entsprechendem Dämpferraum nach oben und unten. „Wir haben an der Radaufnahme an den Aktoren einen Hubweg von fünf Zentimetern nach oben und unten“, erklärt Michael Bär. Am äußeren Rad stehen somit bis zu sieben Zentimeter plus oder minus zur Verfügung, mit denen der A5 in der Kurve angehoben oder abgesenkt werden kann. In einer starken Rechtskurve federt das Prototypenmodell am rechten Vorderrad maximal ein, während der Dämpfer am linken Hinterrad maximal ausfährt. Für die Insassen wir die Kurve gefühlt so fast zu einer Geraden. Das Ganze sieht bei der direkten Hinterherfahrt nach einem kapitalen Dämpferschaden aus, ist aber technisch notwendig, um die Kurve für die Insassen zu überspielen.

Entstanden ist das ungewöhnliche Projekt im Rahmen der Entwicklungen zum autonomen Fahren. Längst ist abzusehen, dass Autos übermorgen komplett eigenständig und ohne Zutun des Fahrers von München nach Nürnberg fahren oder unfallfrei den Weg von der Arbeit zurück nach Hause finden. Der Fahrer kann während solcher Fahrten am Computer arbeiten, Filme sehen oder sich schlichtweg unterhalten. Die Ablenkung vom Straßenverkehr sorgt bei vielen Autoinsassen jedoch für Übelkeit. Michael Bär weiß den Grund: „Dummerweise macht die Biologie vielen Menschen einen Strich durch die Rechnung. Wenn das Gesehene vom Gefühlten abweicht, reagieren sie mit Übelkeit bis zum Erbrechen.“ Das ist mit der Neigetechnik weitgehend vergessen. Beim „querkraftfreien Fahren“ macht das Fahrwerk deutlich mehr als elektronische Dämpferregelungen und Wankstabilisierungen wie Dynamic Drive oder Active Body Control. Denn das System beginnt zu arbeiten, bevor die Kurve selbst begonnen hat. Die Computer im Kofferraum, die dem Audi A5 die Neigetechnik möglich machen, werden nicht nur über den Fahrer, sondern auch über eine Kamera im Innenspiegel mit Informationen gefüttert. „Erkennt das Kamerasystem, dass eine Kurve kommt, beginnt es bereits zu arbeiten und legt den Wagen sanft in die Kurve“, so Michael Bär, „zudem gleicht es die Informationen mit GPS-Daten und Navigationssystem ab.“

Für Eltern, die mit ihren Kindern zu den Großeltern unterwegs sind, eine klasse Sache. Besonders Chauffeure dürften sich ebenfalls über eine solche Fahrwerksausstattung freuen, weil der erlauchte Passagier im Fond ohne Probleme Emails beantworten, Lesen oder am Computer arbeiten kann. Ist die Autobahnkurve maximal geschnitten, kann das Erprobungsmodell das subjektive Fahrgefühl durch seine Neigetechnik bis Tempo 130 komplett ausgleichen. Sind die Kurven nicht allzu eng, klappt es sogar bis 180 km/h. Sonst gibt es zumindest einen deutlichen Komfortbeginn. Das belegen die tausende von Kilometern, die das Entwicklerteam innerhalb des letzten Jahres zurückgelegt hat. Vorher hat Michael Bär über eineinhalb Jahre lang am Computer gesessen und das System auf den Einsatz im Auto vorbereitet. Für schnelle Wechselkurven auf Landstraßen ist die Neigetechnik nicht gedacht. Hier soll der Fahrer aktiv ins Geschehen eingreifen und den Fahrspaß genießen. Eine etwaige Serienumsetzung ist noch in weiter Ferne. Bisher handelt es sich allein um eine Doktorarbeit, die Michael Bär erstellt. Sollte das System in Serie gehen, dürfte mindestens eine Fahrzeuggeneration mit mehr als sechs Jahren ins Land gehen. Gerade mit Blick auf die mächtigen Limousinenmärkte in Asien und den USA dürfte sich das Neigefahrwerk als Option für Luxuslimousinen anbieten.

Quelle: Autoplenum, 2011-04-27

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