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Testbericht

Jürgen Wolff, 11. November 2010
Nein, die schwarz beklebten Erlkönige werden dadurch nicht von den Straßen verschwinden - aber schneller zum realen Serienmodell reifen. Mercedes hat sich einen neuen Super-Fahrsimulator spendiert.

Das Riesenspielzeug der Mercedes-Ingenieure steht am Rande des Sindelfinger Werksgeländes in einer großen Halle: Eine 7,5 Meter durchmessende Kugel auf sechs metallenen Stelzen. Doch was auf den ersten Blick aussieht wie der wahr gewordene feuchte Traum eines jeden "Grand Theft Auto"-Gamers, hat mit Spielspaß weniger zu tun - dafür umso mehr mit High-Tech-Sicherheitsforschung. Eberhard Zeeb steht in dem verglasten Führerstand gegenüber dem mattschwarz glänzenden Ei und hat noch das gleiche Leuchten in den Augen wie ihn wohl sein Nachwuchs hat, wenn der zu Weihnachten einen funkelnagelneuen Gameboy aus dem Geschenkpapier puhlt: "Das hier ist die modernste Anlage ihrer Art", sagt der Chef aller Mercedes-Fahrsimulationen - "und zwar weltweit". Vor gut drei Wochen ist die Anlage offiziell in Betrieb gegangen. Bis 2012 will der Autokonzern in seinem schwäbischen Technology Center rund 160 Millionen Euro in Infrastruktur, Fahrsimulator und Klima-Windkanäle investieren.

Dabei sind Fahrsimulatoren für Mercedes-Benz nichts Neues. Schon vor gut 25 Jahren wurde der erste selbstentwickelte Simulator im Daimler-Benz Forschungszentrum in Berlin-Marienfelde eingeweiht. Aber das war im Vergleich zu dem hier in Sindelfingen eher ein Spielzeug. In den rundlichen Dom, der auf den Stelzen sitzt und wie ein Passagierflugzeug über einen einfahrbaren Rüssel betreten werden kann, passen komplette Fahrgastzellen hinein - egal, ob Pkw, Van oder Lastwagen. Auf der Innenfläche des Doms wird durch acht Hochleistungsbeamer eine weitgehend realitätsgetreue 360-Grad-Ansicht der Fahrzeugumgebung projiziert - mit Häusern, Wiesen, Bäumen, Verkehrszeichen, Fußgängern, Radfahrern, realistischem Schattenwurf, Gegenverkehr und ziehenden Wolken am blauen Himmel.

Die Fahrzeugbewegungen - Beschleunigen, Bremsen, Holpern, Kurvenfahrt - werden durch einen Linearschlitten und die sechs beweglichen Stelzen auf den Dom übertragen. Man kennt das in kleinerem Maßstab aus dem Vergnügungspark: als kurzen Weltraum-Trip mit der Rakete oder schnellen Flug durch einen Motor. Weil die Passagiere in dem geschlossenen Dom keine optischen Bezugspunkte zur Außenwelt haben, reicht zum Beispiel eine Neigung des Doms nach hinten, um sie in die Sitze zu drücken und so ein Gefühl von Beschleunigung zu suggerieren. Dabei werden gewaltige Kräfte eingesetzt. Der Linearschlitten etwa schwebt reibungsfrei auf einem dünnen Luftpolster auf dem zwölf Meter langen und 300 Tonnen schweren Führungssystem. Beim schnellen Beschleunigen auf bis zu 36 km/h liegt die Antriebskraft des Linearmotors bei 220 kN - doppelt so viel wie bei einem ICE. Beim Abbremsen wird durch Rekuperation so viel Energie zurückgewonnen, dass es sich lohnt, sie in das Stromnetz des Werkes einzuspeisen. Über 1000 Mal pro Sekunde berechnet ein Hochleistungscomputer das Fahrverhalten des Autos in der Kuppel und überträgt die errechneten Bewegungen auf die Kabine.

Wozu der ganze Aufwand? "Mit dem System können wir einen Teil des realen Fahrverhaltens auf der Straße in Echtzeit nachbilden", sagt Zeeb: "Exakt simulierbar sind hochdynamische Fahrmanöver, wie zum Beispiel doppelte Spurwechsel oder Slalom. Dabei können wir uns bis an den fahrphysikalischen Grenzbereich herantasten - und das völlig gefahrlos." Mit Hochleistungsrechnern werden "digitale Prototypen" erstellt, berechnet und auf die digitale Straße gebracht. So lässt sich das Fahrverhalten eines neuen Modells schon ausloten, bevor auch nur ein Fahrzeug wirklich existiert. Ein paar Proberunden im Simulator zeigen schnell, wie eindrucksvoll das funktioniert - hat man seine Synapsen erst einmal an die merkwürdig zweidimensionale 3D-Welt rundum gewöhnt. Ein Computerprogramm mit den Fahrwerksabstimmungen eines frühen CLS-Prototypen sorgt beim digitalen Elchtest noch für ziemlich hektische Korrekturbewegungen am Lenkrad. Der nächste Durchgang mit der simulierten endgültigen Abstimmung von Fahrwerk und Lenkung gerät dagegen dann zur leicht-lässigen Übung.

Es sind nicht nur Testingenieure, die in dem Mega-Gameboy ihre Runden abspulen - auch ganz normale Autofahrer gehören immer wieder zu den Probanden. So wollen die Techniker lernen, wie ihre Kundschaft mit ihren Ideen umgeht. Noch in Berlin fanden sie zum Beispiel heraus, dass die meisten zwar schnell aufs Bremspedal treten, aber nicht kraftvoll genug. "So wurde wertvoller Anhalteweg verschenkt", sagt Zeeb. Diese Erkenntnist führte dann zur Entwicklung des Bremsassistenten, der die Situation erkennt und automatisch die maximale Bremskraft bereitstellt. Der riesige Dom ist nur einer von fünf sehr unterschiedlichen Simulatoren, die in dem Gebäude unter einem Dach vereint sind - wenn auch der spektakulärste. In einem Raum gleich nebenan steht der Ride-Simulator - im Grunde eine bewegliche Rüttel-Plattform mit zwei Sitzen. Getestet wird damit das Komfortverhalten digitaler Prototypen auf unterschiedlichen Straßenoberflächen. Ein paar Türen weiter stehen zwei Simulatoren ohne Bewegungssystem. An ihnen werden zum einen Fahrversuche vorbereitet, die anschließend im Dom stattfinden sollen. Zum anderen gibt es an ihnen Versuche, bei denen der Bewegungseindruck nicht so wichtig ist - beim Testen von Fahrassistenzsystemen etwa oder beim Sounddesign. Bleibt noch ein mobiler Simulator, mit dem sich Assistenzsysteme demonstrieren lassen.

Bei der Entwicklung neuer Modelle sparen die Simulatoren Zeit und Geld: "Im Vergleich zum Vor-Simulator-Zeitalter können wir mindestens eine Prototypenphase überspringen", sagt Eberhard Zeeb: "Die echten Prototypen erreichen so viel schneller einen höheren Reifegrad." Eines allerdings ersparen die Simulatoren nicht: reale Testfahrten auf realen Straßen. Zeeb: "Dafür sind sie kein Ersatz, sondern die denkbar beste Ergänzung dazu."

Quelle: Autoplenum, 2010-11-11

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