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Testbericht

7. September 2011
München, 8. September 2011 - Der monströse Akku vor uns wiegt 640 Kilogramm - einer der größten, die je in einem Pkw verbaut wurden. Aber was heißt hier schon Pkw, unser Wagen kommt aus dem Fahrzeugsegment "GKL++". Damit sind Luxusautos mit einem Mindestpreis von 200.000 Euro gemeint. In unserem Fall ist das ein Rolls-Royce Phantom 102EX, also ein Experimantal-Phantom mit reinem Elektroantrieb. Wir testen, ob der Wagen Rolls-Royce-Feeling ohne Verzicht liefert.

Leuchtende Spirit of Ecstasy Der Strom-Phantom ist von außen nur dezent als solcher zu erkennen. Das Fahrzeug ist ein klassisches, riesiges Schiff mit einer Länge von 5,84 Meter. Der tempelartige großflächige Chromgrill stellt sich selbstbewusst senkrecht in den Wind. Über dem Grill thront die Spirit of Ecstasy genannte Kühlerfigur. Diese fährt nur bei eingeschalteter Elektronik aus ihrem Versteck und besteht aus durchsichtigem Polycarbonat, welches von unten mit einer hellblauen LED beleuchtet wird. Nur ein halbes Watt wird dafür laut Rolls-Royce fällig. Ansonsten ist der "Tankdeckel" hinten rechts jetzt mit einem Fenster versehen, dahinter ist die fünfpolige Steckdose für das Ladekabel zu erkennen. Außerdem gibt es dort noch einen Knopf, mit dem der Ladevorgang jederzeit unterbrochen werden kann. Besonders auffällig wird der Elektro-Phantom durch seine aus 16 Schichten bestehende Lackierung, die im Sonnenlicht changiert und "Atlantic Chrome" heißt. Außerdem sind alle Rolls-Royce-Experimentalfahrzeuge mit den roten Buchstaben des RR-Logos versehen. Und: Wenn Kunden die Farbe oder die Leucht-Emily oder das rote Logo haben wollen, bekommen sie es natürlich. Nur der Elektroantrieb ist unverkäuflich.

Hinten kein Mitteltunnel Der Innenraum des Phantom ist eine Welt aus Leder. Nicht nur die Sitze sind mit dem Naturprodukt bezogen, auch das Dach und die Fußräume werden mit Tierhaut ausgekleidet. Die Besonderheit: Im 102EX setzt Rolls-Royce erstmals ein mit einem Kastanienextrakt gegerbtes Leder ein. Das so genannte Seton Corinova ist durch den neuen Gerbprozess chromfrei und kann mit weniger Farbeinsatz gefärbt werden. Der bräunliche Ton wirkt wohnlich und fasst sich gut an. Die Sitze sind äußerst bequem und vermitteln den Insassen die Erhabenheit, die das gesamte Fahrzeug versprüht. Seitenhalt ist bei den Sitzen Fehlanzeige und wird auch nicht gebraucht: Einen Phantom zieht man ganz sanft an seinem extradünnen Lenkrad um die Kurve. Der Wegfall der Kardanwelle bringt einen Vorteil für die Passagiere im Fond: Der Mitteltunnel wurde wegrationalisiert. Holz-Applikationen finden wir im Experimental-Fahrzeug weniger, dafür wurde eine mit Aluminium bedampfte und mit Klarlack überzogene Webefolie eingesetzt, die im auffälligen Gegensatz zur ansonsten klassischen Raumausstattung des Phantom steht.

Zur Sanftheit gezwungen 2,7 Tonnen bringt der von den Ingenieuren Phantom Experimental Electric genannte Wagen auf die Waage. Das Serienmodell mit 6,7-Liter-V12-Motor kommt nur auf gut 2,5 Tonnen. Der schwere Hochvoltspeicher vorne führt aber zusammen mit den beiden Elektromotoren über der Hinterachse zu einem recht ausgeglichenen Gewichtsverhältnis: 53 Prozent der Last liegt auf der Vorderachse, 47 Prozent drücken hinten. In der Serie ist die Verteilung um ein bis zwei Prozent schlechter. Das ändert allerdings nichts an der Schwanksucht des Großen, der wir nur durch eine vornehm zurückhaltende Fahrweise begegnen können. Daran gewöhnen wir uns sehr schnell und entdecken den Spaß am geschmackvollen Gleiten. Schlaglöcher und ähnliche Unbilden bügelt das ultrakomfortable Fahrwerk selbstverständlich komplett weg - die Rolls-Royce-Modelle leben davon, sämtliche störenden Einflüsse von ihren Insassen fern zu halten.

Zwei Rekuperationsstufen Die Bremsen des Phantom 102EX sind dem Gewicht des Wagens angemessen, wir haben kein Problem, ihn wie einen normalen Pkw zu stoppen. Rolls-Royce hat den Wagen zudem mit einem Rekuperationssystem ausgestattet. Mit anderen Worten: Nehmen wir den Fuß von dem Bedienteil, welches früher "Gaspedal" hieß, arbeiten die Elektromotoren als Generatoren und speisen in den Akku Energie zurück. Dadurch verzögert der Wagen automatisch, sobald wir den Fuß vom "Gas" nehmen. Das Rekuperationslevel lässt sich per Druck auf die "Low"-Taste am Lenkrad in zwei Stufen regeln. Normalerweise rekuperiert der Antrieb im Phantom 102EX mit bis zu 120 Newtonmeter. Im "Low"-Betrieb wird mit bis zu 210 Newtonmeter Energie zurückgewonnen, was wir an der deutlich stärkeren Verzögerung spüren. Lenken lässt sich das Schiff mit seinem großen Steuerrad ausgesprochen leichtgängig, aber trotzdem präzise und ohne störendes Spiel in der Mittellage.

Zwei Motoren statt zwölf Zylindern Der 102EX hat zwei Permanentmagnet-Synchronmotoren über der Hinterachse statt eines großen Verbrennungsmotors über der Vorderachse. Die Elektro-Aggregate des amerikanischen Herstellers UQM Technologies leisten jeweils 145 Kilowatt (etwas über 194 PS). Zusammen stehen also 290 Kilowatt (389 PS) zur Verfügung. Außerdem bauen die Strom-Triebwerke ab Start über ein breites Drehzahlband ein immenses Drehmoment von 800 Newtonmeter auf. Damit geht es laut Werk in unter acht Sekunden von null auf 100 km/h, bei 160 km/h wird elektronisch abgeregelt. Zum Vergleich: Mit Zwölfzylinder-Verbrennungsmotor stehen 460 PS bereit, das maximale Drehmoment von 720 Newtonmeter liegt bei 3.500 U/min an. Damit ist der Referenzsprint in 5,9 Sekunden abgehakt, maximal sind 240 km/h drin.

Leiser als leise Wir drücken aufs Energiepedal. Der Wagen setzt sich sachte in Bewegung. Das hammerharte Drehmoment wird von der Steuerung gut im Zaum gehalten, kann sich nur angemessen entfalten - nie fällt es brachial über den Antriebsstrang her. Und der Innenraum bleibt dabei unwirklich leise. Schalten wir die Lüftung und die Klimatisierung aus, hören wir eher unseren eigenen Herzschlag, unseren Atem und das Rascheln unserer Kleidung als irgendwas vom Antrieb. Das Rolls-Royce-Feeling wird hier nochmal getoppt - Freunde des ultimativen Komforts dürften zufrieden sein. Um die Elektromotorengeräusche von der Kabine fernzuhalten, wurden die ohnehin über der Hinterachse befindlichen Dämmmaterialien an eine akustisch günstigere Position versetzt. Und eine Schaltung gibt es nicht, das Ein-Gang-Getriebe arbeitet mit einer festen Untersetzung. Spürbare Schaltvorgänge oder eine Zugkraftunterbrechung sind somit konzeptbedingt nicht möglich.

Energiedichte für Reichweite Als Energiespeicher kommt beim Phantom 102EX ein Lithium-Nickel-Kobalt-Mangan-Oxid-Akku des schottischen Batteriespezialisten Axion zum Einsatz. Dieser hat eine Kapazität von 71 Kilowattstunden, was etwa 230 Wattstunden pro Kilogramm entspricht. Diese hohe Energiedichte ist notwendig, um bei dem schweren Wagen wenigstens halbwegs akzeptable Reichweiten zu erzielen. Die 850 Ampere des Akkus liegen bei 338 Volt Wechselstrom an. Die fünf Zellmodule des Batteriesatzes enthalten 38, 36, zehn, acht und vier Zellen. Das gesamte Paket wurde in seiner äußeren Form der Verbrennungsmotor-Getriebeeinheit des Phantom nachempfunden, um es perfekt im Motorraum platzieren zu können. Bleiben Verbraucher wie Radio, Lüftung und Klimaanlage ausgeschaltet, ist eine Reichweite von bis zu 200 Kilometer drin.

Berührungsloses Laden Geladen wird das wuchtige Power-Päckchen in acht Stunden über einen dreiphasigen Anschluss oder in 20 Stunden über einen einphasigen Anschluss. Außerdem kann der Akku berührungslos per Induktion aufgeladen werden, indem der Phantom über einer Ladeplatte geparkt wird. Damit entfällt das möglicherweise als unkomfortabel empfundene Arbeiten mit einem Ladekabel. Das Übertragungsfeld wurde laut Rolls-Royce so konstruiert, dass Umstehende keine elektromagnetische Strahlung abbekommen.

Elektropionier: Henry Royce Mit aufkommender Elektromobilität entdecken die Fahrzeughersteller ihre Stromgeschichte wieder - so auch Rolls-Royce. Elektroingenieur und Firmen-Mitgründer Henry Royce verkaufte bereits in den 1890er-Jahren über sein damaliges Unternehmen "F.H. Royce and Co" Lampen und Klingeln. Zudem entwickelte er erfolgreich Dynamos und Elektromotoren. Und: Der noch heute verwendete Bajonett-Glühbirnensockel geht auf ein Patent von Henry Royce zurück. Auch Charles Rolls versuchte sich an elektrischer Mobilität, bevor er zu einem der Gründer von Rolls-Royce wurde.

Weitblick Allerdings bewies Henry Royce in Sachen Elektrofahrzeuge Weitblick: "Sie sind absolut lautlos und sauber. Es gibt keine Gerüche oder Vibrationen, sie werden sich in Städten als sehr nützlich erweisen, wenn feste Ladestationen aufgebaut werden können. Aber für die Nutzung auf dem Land glaube ich nicht, dass sie sehr nützlich sind - zumindest nicht in den kommenden Jahren." Und so baute Rolls-Royce lieber Verbrennungsmotor-Wagen, die in Sachen Geräuschentwicklung Elektroautos sehr nahe kamen. Heute ist es an der Zeit, darüber nachzudenken, ob die "kommenden Jahre" des Henry Royce vorbei sind.
Technische Daten
Antrieb:Heckantrieb
Anzahl Gänge:1
Getriebe:feste Untersetzung
Motor Bauart:2 Permanentmagnet-Synchronmotoren, wassergekühlt
Drehmoment:800 Nm bei 0 UPM
Preis
Neupreis: keine Angaben/Experimental-Fahrzeug € (Stand: September 2011)
Fazit
Der Rolls-Royce Phantom 102EX ist ein faszinierendes Experimental-Fahrzeug und zu 100 Prozent ein Rolls-Royce. Seine Sanftheit und Geräuscharmut übertreffen noch das in dieser Hinsicht ohnehin schon extrem gute Serienmodell und machen ihn so noch ein wenig erhabener. Die Lademöglichkeit per Induktion passt gut zum Luxus-Anspruch des Wagens.

Einzig die Reichweite der großen Limousine fällt mit 200 Kilometer im Sparbetrieb noch deutlich zu knapp aus - ansonsten müsste der Rolls-Royce-Kunde beim 102EX auf nichts verzichten. Zum Preis des Wagens hüllen sich die Engländer in Schweigen - er wird ohnehin nie in Serie gehen. Die Idee, die wohl solventeste Kundschaft der Welt mit Elektromobilität in Kontakt zu bringen, finden wir gut.
Testwertung
4.5 von 5

Quelle: auto-news, 2011-09-07

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