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Testbericht

Benjamin Bessinger/SP-X, 9. August 2019
SP-X/Irvine/Kalifornien. Die meiste Zeit saß Robert Fuller Sr. in einer Corvette. Doch je älter der Manager aus Massachusetts wurde und je länger seine Strecken wurden, desto größer wurde die Sehnsucht nach einem komfortableren Auto mit mehr Kofferraum. Heute hätte Fuller sich in dieser Situation wahrscheinlich für ein SUV entschieden. Doch erstens wäre Fuller heute 109 Jahre alt und ist vor neun Jahren gestorben, und zweitens wusste man als für ihn vor über 50 Jahren der Abschied von der Corvette anstand, er noch nicht einmal, wie man Sport Utility Vehicle buchstabiert.Sehr zur Freude von Mike Kunz, der das Mercedes Classic Center in Ivrine in Kalifornien leitet. Denn statt eines soften Geländewagens hat sich Fuller am 15. November 1966 für 4.563 Dollar einen Mercedes W110 gekauft, ist mit ihm ein Leben lang durch Neu England gefahren und über 50 Jahre später hat sein Sohn den Wagen mit nicht einmal 50.000 Meilen auf der Uhr und keinem Krümel Rost am Blech für einen symbolischen Dollar an Kunz und die Daimler-Sammlung verkauft.Der hat da gerne zugegriffen. Erstens, weil die Substanz der Limousine großartig war. Und zweitens, weil es dem Auto nicht an Signifikanz mangelt. Nicht umsonst zählt der W110 zu den Urvätern der E-Klasse und hat deshalb einen festen Platz in der Mercedes-Historie: Als Nachfolger des so genannten Ponton entwickelt, kam er 1961 auf den Markt und musste sich mit Wettbewerbern herumschlagen, die heute eher ungewöhnlich klingen. Denn nicht BMW war damals der Gegner, und an Audi hat man noch nicht einmal gedacht. Sondern vor allem gegen Opel Rekord und Ford 17M musste sich der anfangs 9.950 Mark teure W110 bei uns behaupten. Das hat er so erfolgreich getan, dass bis zum Generationswechsel im Jahr 1968 immerhin 600.000 Autos verkauft wurden.Heute konkurriert er allerdings mit ganz anderen Kalibern – zumindest in der Garage des Classic Centers in Irvine. Denn jetzt steht der rüstige Rentner aus dem Jahr 1966 ziemlich unscheinbar zwischen traumhaften Flügeltürern, präsidialen Limousinen und sündhaft teuren Luxuscabrios aus der Nachkriegszeit und fällt kaum auf bei so viel Glanz und Gloria. Ja, der Grill ist groß und prunkvoll, der grüne Lack von einer Tiefe, wie man sie heute nicht einmal mehr bei Rolls-Royce findet, und die kleinen Peilstege am Kofferraum, mit der die Mercedes-Designer in typisch deutscher Bescheidenheit den Heckflossen von Cadillac & Co nacheifern wollten, geben auch der Kehrseite Charakter. Aber wer in Kunz’ Kollektion nach Traumwagen schaut, der übersieht die „kleine Heckflosse“ gerne.Was das für ein großer Fehler ist, merkt man schon wenige Minuten nach der Schlüsselübergabe. Denn während die Flügeltürer und S-Klassen bei allem Ruhm große Diven sind, die man allein wegen ihres Wertes nur mit Samthandschuhen anfasst und entsprechend reserviert steuert, erweist sich die handliche Limousine auch 53 Jahre nach ihrer Auslieferung noch als profundes Alltagsauto – erst recht in den USA, wo die Fahrer entspannter, die Straßen breiter und die Kurven weiter sind.Schon bei der Fahrt durch Downtown Los Angeles fühlt man sich wie der King of the Road, wenn man in Ermangelung einer Klimaanlage die Fenster weit herunter gekurbelt hat und weich in den bequemen Sesseln wippt, während die Limousine über die Bodenwellen schwingt. Und später, wenn sich der Highway Number One dem Pacific nähert und der Verkehr lichter wird, darf der Motor zum ersten Mal zeigen, was in ihm steckt. Schließlich hat sich Fuller für das Top-Modell entschieden. Während der W110 bei uns meist als Wanderdüne mit 55 PS schwachen Dieseln durch die Gegend waberte, schnurrt hier unter der langen Haube ein 2,3 großer Benziner, der mit knapp 180 Nm zu Werke geht. Das reicht im Grunde locker selbst für die großen Freeways und Interstates.Zwei, drei Stunden geht es entlang der Küste, bevor der Kurs nach Osten in die Berge führt, die Hollywood Hills, die San Bernardino Mountains – einfach nur weg aus dem Gewühl und hinein in die Einsamkeit zieht es die Heckflosse und mit jeder Meile wird man milder gestimmt, alle Hektik fällt vom Fahrer ab und der Pulsschlag wird irgendwann so ruhig wie der Sechszylinder, der ungerührt vor sich hin schnurrt, als wären die Jahre im Flug vergangen.Die endlosen Ebenen im Hinterland von Los Angeles, die Gebirgszüge im Yosemite und die Panoramastraßen im Sequioa National Park – treu und tapfer findet „Finny Minnie “, wie die Fullers ihren Mercedes getauft haben, den Weg. Selbst den Sonora Pass, mit 2.933 Metern die zweithöchste Querung der Sierra Nevada meistert der Mercedes ohne Murren; man muss halt nur oft genug zum dürren Schaltknauf greifen, der damals gegen Aufpreis vom Lenkrad weg in den Mitteltunnel gerückt wurde, weil das als sportlicher empfunden wurde.So schnurrt der Sechszylinder durch den amerikanischen Westen, verbraucht nur einen Bruchteil des Sprits, den die Pick-Ups um ihn herum verbrennen und zieht alle Blicke auf sich. Die älteren werden sentimental und schwelgen in ihren Erinnerungen, die jüngeren sind neugierig und fragen sich, wie man so ein analoges Auto ohne Digitalanzeigen und Touchscreen überhaupt fahren kann und was das für ein komisches Ding mit den vielen Tasten da in der Mittelkonsole ist, auf dem „Radio“ steht. Doch tauschen würden sie alle ohne Zögern.Thank you, aber nein Danke! Der Mercedes ist schließlich auf einer Mission und der Roadtrip noch nicht zu Ende. Sondern der führt noch ein paar hundert Kilometer weiter ins Landesinnere über den einsamsten Highway der USA, auf dem man sich bei Nacht im trüben Licht der Glühwendel hinter den Glubschaugen der Scheinwerfer noch viel einsamer fühlt, bis zum großen Salzsee, wo sich in Bonneville die Raser und Rekordjäger treffen. Da hat der 110er allerdings nichts zu suchen – selbst wenn der 230er in kaum mehr als zwölf Sekunden von 0 auf 100 km/h beschleunigt hat und ein respektables Spitzentempo von 175 km/h erreicht. Doch die Salzlake ist Gift ist für die blank polierte Karosse. Und nachdem einer Kaufberatung des Magazins Auto, Motor und Sport zufolge schon viel zu viele der 110er vom Rostfraß dahingerafft wurden, sollen sich auf der weißen Kruste besser andere Autos austoben.Je länger man mit der Heckflosse unterwegs ist, desto überzeugter ist man davon, dass Robert Fuller Sr. vor 53 Jahren eine gute Wahl getroffen hat – selbst, wenn sie manch Deutschen überrascht haben dürfte. Schließlich kannte man den W110 in Berlin oder München vor allem als Taxi und damit auf der Kurzstrecke, während er in Boston oder Milwaukee schon immer als Langstreckenwagen genutzt wurde. Denn die kleine Heckflosse macht auf der großen Fahrt eine ausgesprochen gute Figur und ist einem schnell ans Herz gewachsen. So sehr, dass man versucht ist, einen Blick in die Kleinanzeigen und die üblichen Internetbörsen zu werfen – und dort schnell einen weiteren Vorzug der kleinen Heckflosse kennen lernt – denn für einen Mercedes von über 50 Jahren ist „Finny Minnie “ ein vergleichsweise günstiges Auto: Während die Flügeltürer mittlerweile Millionenwerte haben, gibt wird der W 110 bereits für Preise unter 20.000 Euro gehandelt. Bei uns kennt man ihn vor allem als Taxi. Doch während der Mercedes W110 in der deutschen Erinnerung vor allem auf der Kurzstrecke unterwegs war, haben ihn die Amerikaner als Auto für lange Distanzen kennen und lieben gelernt. Wer heute mit dem rüstigen Oldtimer jenseits des Atlantiks unterwegs ist, der versteht schnell, warum.
Fazit
Bei uns kennt man ihn vor allem als Taxi. Doch während der Mercedes W110 in der deutschen Erinnerung vor allem auf der Kurzstrecke unterwegs war, haben ihn die Amerikaner als Auto für lange Distanzen kennen und lieben gelernt. Wer heute mit dem rüstigen Oldtimer jenseits des Atlantiks unterwegs ist, der versteht schnell, warum.

Quelle: Autoplenum, 2019-08-09

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