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Testbericht

Sebastian Viehmann, 7. November 2010
Vor 100 Jahren war Autofahren ein echtes Abenteuer. Einen 80 Km/h schnellen Mercedes Simplex muss man heute erst einmal auf der Straße halten: Echte Kraft-Fahrer sind da gefragt.

„Watch out – Achtung!“ Während sich der Mercedes Simplex seinen Weg durch die die Uferpromenade des englischen Seebads Brighton bahnt, brüllt man sich als Fahrer die Seele aus dem Leib. Zum Glück gibt es noch die Blasebalg-Hupe. Sie verscheucht auf der kurzen Testfahrt mit lautem Tröten die Passanten, die sich um die illustre Schar automobiler Methusalems drängen. Bei der alljährlichen Klassiker-Ausfahrt „London to Brighton Veteran Car Run“ sind nur Autos erlaubt, die nicht jünger sind als Baujahr 1904. So wie der weiße Mercedes Simplex von 1902 mit Vierzylindermotor, 6,6 Litern Hubraum, 40 PS, Kettenantrieb, Motorstart per Handkurbel und einer Höchstgeschwindigkeit von 80 Km/h.

Doch schon bei Tempo 20 hat der Fahrer allerhand zu tun. Die Lenkung ist extrem schwergängig – der Widerstand entspricht ungefähr dem, den man in einem modernen Auto beim Lösen des Lenkradschlosses überwinden muss. Damit man die Kurve kriegt, muss man wie ein Ochse und bloß nicht zu spät am hölzernen Volant ziehen. Jetzt weiß man auch, woher der Begriff „Kraftfahrer“ stammt. Zum Verzögern latscht man auf zwei Pedale für die Getriebebremsen. Für den Notfall gibt es eine Handbremse, der Hebel sitzt außen am Fahrzeug. Direkt daneben findet sich der Schalthebel. Zum Gangwechsel muss man auskuppeln, den Hebel in Leerlauf bringen und wieder die Kupplung treten. Falls der folgende Gangwechsel ohne ein hässliches Knirschen über die Bühne geht, darf man sich auf die Schulter klopfen.

Der Simplex-Renner von 1902 wagte sich zusammen mit einem Tourenwagen von 1904 auf die 96 Kilometer lange Fahrt von London nach Brighton, die seit 114 Jahren die schillerndsten, wertvollsten und natürlich ältesten Autos aller Zeiten anzieht. Am Steuer der beiden Mercedes-Veteranen saßen der Ex-Rennfahrer Tony Dron sowie der ehemalige Formel 1-Pilot Jochen Mass. Damit die Veteranen überhaupt starten konnten, musste das Team von Michael Plag aus dem Mercedes Classic Center reichlich Schweiß und Tränen investieren. „Es war zum Beispiel extrem schwierig, die Steuerzeiten und die Zündung einzustellen“, erzählt Plag.

Auch das Futter darf den Schwaben-Oldies nicht ausgehen. Auf einer Strecke von 70 Kilometern verschlingt der Simplex ganze 40 Liter Benzin und genehmigt sich als Dessert noch zwei Liter Öl. Ersatzteile wie Dichtungen, Riemen und Reifen sind immer zur Stelle, jedoch keine Garantie, auch die Zielflagge zu sehen: „Wir haben schon oft am Veteran Run teilgenommen, sind aber längst nicht mit allen Autos in Brighton angekommen“, gibt Michael Plag zu.

Pleiten, Pech und Pannen gehörten zur Pionierzeit des Automobils so selbstverständlich dazu wie heutzutage ein Stau am Frankfurter Kreuz. Das war auch nicht schlimm, denn für die Gentlemen am Steuer ging es streng genommen um nichts. Bevor Henry Ford seine Tin Lizzy über das Fließband jagte, waren Automobile kapriziöse Spielzeuge für Superreiche. „Auf heutige Verhältnisse umgerechnet, musste man für einen Simplex ungefähr eine Million Euro auf den Tisch legen“, schätzt Michael Plag. Der aktuelle Wert der beiden Daimler-Veteranen lässt sich kaum beziffern. Von dem 1902 gebauten Modell existieren noch ungefähr fünf Stück.

Der Simplex gilt als erster echter Mercedes und als Quantensprung der Automobiltechnik. Im Vergleich zu anderen Benzinkutschen dieser Zeit war der Betrieb geradezu simpel – Nomen est Omen. Der niedrige Schwerpunkt und die schräg stehende Lenksäule verbesserten das Fahrverhalten. Eine wesentliche Erleichterung war die zentrale Ölversorgung. „Andere Autos hatten damals für jede einzelne Schmierstelle einen Tropföler“, erzählt Oldie-Experte Michael Plag. Aus der Verantwortung stehlen darf sich freilich auch ein Simplex-Pilot nicht. Am Armaturenbrett, das seinen Namen übrigens zu recht trägt, muss er ständig zehn kleine Röhrchen kontrollieren. Sie informieren über den Ölstand in den Zylindern, der Kurbelwelle, der Lenkung, der Kupplung und der Nockenwelle.

Den ersten Simplex baute Daimler-Chefkonstrukteur Wilhelm Maybach im Jahr 1900. Bei den Rennwochen in Nizza, ein Szenetreff der Superreichen, fuhr der Wagen die Konkurrenz häufig in Grund und Boden – die beste Werbung, die Daimler sich wünschen konnte. „Adelige und Promis wie der Milliardär William Vanderbilt wollten unbedingt so ein Auto haben. Da begann der Siegeszug“, erzählt Michael Plag. 1902 wurde der Name Mercedes ins Markenregister eingetragen. Die Bezeichnung war eine Idee von Emil Jellinek, der den Vertrieb der Daimler-Fahrzeuge übernommen hatte und dessen kleine Tochter Mercédès hieß.

Mehr als ein Jahrhundert später ist der Simplex wieder da angekommen, wo er begonnen hat: Der Urahn aller Mercedesse wird nur höchstselten und zum Spaß bewegt, zum Beispiel beim London to Brighton Run. Michael Plag ist erleichtert, als die beiden Veteranen nach der Zieleinfahrt wieder auf den Hänger geschoben werden und Huckepack die Heimreise antreten. Die durchgefrorenen Passagiere kuscheln sich derweil in warme Decken, schlürfen heißen Kaffee und richten sich die zerzauste Haarpracht. Der Simplex wurde zur Zeitmaschine in eine Epoche, in der Autofahren noch gefährlich, abenteuerlich, faszinierend und schweißtreibend war. Und doch ist man erleichert, sobald man wieder vom Trittbrett gesprungen ist: Schön, dass man solche Autos heute nur noch zum Spaß fährt.

Quelle: Autoplenum, 2010-11-07

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